Logo

Archiv

LETZTE LOCKERUNG
mit Arbeiten von Daniela und Linda Dostálková, Loretta Fahrenholz, Anne Jud, Klara Lidén, Lili Reynaud-Dewar, Philipp Timischl und Amalia Ulman

17. August – 6. Oktober 2019

Zum Ausstellungstext

Der Sog, mit dem die Sozialen Medien dazu verführen, sich selbst und sein Leben als Performance zu inszenieren, wäre vor zehn Jahren kaum vorstellbar gewesen. Eine offensichtliche Sehnsucht und der unterschwellige Druck, sichtbar zu sein und anerkannt zu werden, bringen ganz erstaunliche Begabungen des Schauspiels ans Licht. In einer Umgebung, die als andauernde Bewerbungssituation erscheint, wird immer seltener das Selbst gezeigt, stattdessen werden Masken inszeniert. Diese Dramatisierung des Lebens, die Darstellung des vorgeblichen Selbst in Rollen, ist zur Normalität geworden. Man kann dies als Verlust an authentischer Persönlichkeit bedauern, darin aber auch eine intelligente Dramatisierung des Lebens erkennen. Statt gedankenlos in den engen Kreisen der angenommenen Eigentlichkeit zu verharren, wird man als Regisseur*in seiner Selbst souveräner über die eigene Ver- und Entfremdung. Die Dramatisierung des alltäglichen Lebens, mit jenem seltsamen Wesen, welches wir «Ich» nennen, in der Hauptrolle ist kein neues Phänomen, mögen die technologischen Möglichkeiten des Internets auch ungeahnte Bühnen geliefert haben.

Erving Goffman (1922–1982) hat die alltäglichen Rollenspiele bereits 1959 in seinem Buch «Wir alle spielen Theater» anhand von Theater- und Bühnenmetaphern untersucht. Der Soziologe schreibt, dass ein Individuum, wenn es sich anderen präsentiert, daran interessiert ist, die Wirkung, die es ausübt, zu kontrollieren. Auf der Bühne würden Dinge vorgetäuscht. Im Leben würden Dinge dargestellt, die echt, aber höchstwahrscheinlich unzureichend erprobt wären. Auch bei Goffman geht es somit um die Frage, wer Souverän des Auftritts ist.

Etwas anders formuliert liesse sich sagen: Wenn sich das tägliche Leben als Bühne behauptet, scheint es schlauer, ein falsches Ich gut zu spielen, als sich naiv dem Blick des Publikums zu unterwerfen.

Künstler*innen beschäftigen sich zwangsläufig mit ihrer Wirkung auf das Publikum; manche machen den eigenen Auftritt zum Teil ihrer Praxis. Wie man als Künstler*in auftritt, sei es durch die künstlerische Arbeit, auf Instagram, in einem Interview oder an einer Vernissage, erzeugt ein Bild von sich und formt den Ruf. Den „richtigen“ Grad an Distanz zu sich selber zu finden ist nicht einfach.

Die Ausstellung Letzte Lockerung zeigt Arbeiten, in denen unterschiedliche Auftrittsformen zutage treten und die Künstler*innen verschiedene Rollen und Charaktere einnehmen oder einnehmen lassen. Es handelt sich um Rollenspiele, mittels denen die Erwartungen an Selbstdarstellungen und Publikumsbezug überspitzt oder unterlaufen werden. Die Arbeiten zeigen Handlungen der vergnüglichen Selbstermächtigung, aber auch die Anforderungen, mit denen Künstler*innen als Subjekte konfrontiert sind.

«Wann du wirklich alt bist? Wenn es dir kein Vergnügen mehr bereitet, ein Publikum zu haben. Dein grösster Vorteil? Nicht zu sein, was du scheinst, ja nicht einmal scheinen zu wollen, was du nicht bist.»: Der Ausstellungstitel Letzte Lockerung ist dem gleichnamigen Buch des Schriftstellers Walter Serner (1889–1942) entlehnt. Während Serner im ersten Buchteil das bekannte Dada-Manifest «Letzte Lockerung, Manifest, dada» (1920) formuliert, widmet er sich im zweiten Teil einer Anleitung für Unterwelt-Dandys und Spieler*innen, «Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen» (1927).

Serners wunderbarer Text wurde oft des Zynismus bezichtigt. Er lässt sich aber auch einfach als ebenso präzise wie humorvolle Unterscheidung zwischen Ausdruck und Eindruck lesen. Serners Held, der Ratschläge gibt, will sich nicht einfach als der ausdrücken, der er ist, sondern den Eindruck eines anderen hinterlassen. Bei Serner ist dies noch eine hochpolitische Geste, ein Widerstand gegen die Klassengesellschaft, die das Haben, den Besitz von Geld, als Sein postuliert. In unserer immer virtuelleren Gegenwart behauptet sich diese Klassengesellschaft zwar immer noch erstaunlich stabil, die wachsenden Möglichkeiten des schönen Scheins im Spiel nagen aber heiter an ihren fragwürdigen Fundamenten.

*Die Kunsthalle Bern dankt der freundlichen Unterstützung der Kultur Stadt Bern sowie dem Österreichischen Kulturform Bern sowie dem Bundeskanzleramt Österreich. Die Ausstellung wird unterstützt durch den No Leftovers-Fonds.

Bilder: Installationsansichten, Kunsthalle Bern, 2019. Fotos: Gunnar Meier

Veranstaltungen