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Diese zweite Ausstellung im Rahmen des Projekts The idea of Africa (re-invented) ist von kleinerem Umfang als die erste; sie ist weniger visuell, eher diskursiv, und sie sucht die Auseinandersetzung mit einer äusserst diffizilen Thematik, namentlich der Rasse. Seit meinem Besuch der Documenta XI im Jahr 2002 denke ich über ein Erlebnis nach, das ich dort machte und das womöglich einen thematischen Impetus für das vorliegende Projekt bildete. Mit einem Freund und Kollegen flanierte ich durch die Ausstellung in Kassel, und dieser Freund verlieh seiner Irritation angesichts der omnipräsenten schwarzen Körper in den gezeigten Werken Ausdruck. Es schien fast, als ob ihm weisse Körper im Kontext einer internationalen Kunstschau gleichsam als neutrale und normative ‚Nullstelle’ erschienen wären, schwarze Körper aber Anlass zu kontroversem Nachdenken bieten mussten. Oder vielleicht war er irritiert, weil die besagten schwarzen Körper nicht in einem exotischen oder dementsprechend stilisierten Rahmen gezeigt wurden? Ich weiss es nicht, aber diese kleine Anekdote zeigte mir, dass die Documenta XI einen womöglich ganz unfreiwillig zustandegekommenen Subtext aufwies, der letztlich ein wichtiges Moment für die Wahrnehmung und Beurteilung einer internationalen Ausstellung bilden musste. Ob gewollt oder nicht: Die Ausstellung verschob gleichsam den Schwerpunkt im offenbar noch sehr umstrittenen Diskurs über Hautfarbe und Rasse in der Gesellschaft der Gegenwart, und beleuchtete so die Prämissen einer aufwendigen Ausstellung wie der Documenta. Wenn die Documenta XI auch global orientiert war und auf zeitgenössische Kunst in all ihren Erscheinungsformen fokussierte – unter Berücksichtigung aktueller politischer, technologischer und ideologischer Konflikte, Entwicklungen und Synthesen –, so erwies sie sich doch als enorm „schwierige und heikle“ Unternehmung. Entscheidend war am Ende wohl der Tabubruch, der mit der Ausstellung assoziiert wurde. Der künstlerische Direktor Okwui Enwezor hinterfragte das Primat der westlichen Kultur, indem er die Entwicklungszentren und seine Bezugnahmen auf diese Zentren verschob oder gar invertierte.
The idea of Africa (re-invented) wurde, wie in der Zeitung zur ersten Ausstellung erwähnt, von zwei Büchern des kongolesischen Philosophen Valentin Yves Mudimbe inspiriert. Die Texte spüren einer bestimmten konstruierten „Idee“ nach, die man sich von den alten Griechen bis in s 20. Jahrhundert von Afrika machte und aufrechterhielt. Mudimbe untersucht auch, wie afrikanische Forscher in und trotz den Grenzen der ihnen aufgezwungenen Sprache und epistemologischen Rahmenbedingungen arbeiten – ‚zurückschreiben’ – konnten. Das vorliegende Ausstellungsprojekt nimmt künstlerische und intellektuelle Unternehmungen in den Blick, die eine ganz andere Geschichte erzählen, in der die „Idee“ Afrikas eben nicht immer schon eine nach westlichen Gesichtspunkten konstruierte ‚Gegebenheit’ ist.
In diesem Zusammenhang wird der senegalesische Historiker, Anthropologe, Physiker und Politiker Cheikh Anta Diop wichtig (29. Dezember 1923 in Thieytou, Diourbel-Region – 7. Februar 1986 in Dakar). Für Valentin Yves Mudimbe bildet Diops Schaffen zur kulturellen Erfahrung Afrikas einen Teil der extremen Beispiele eines ideologischen Prozesses, den afrikanische Gelehrte in den Fünfzigerjahren in Gang setzten: Sie unterschieden zwischen ‚guten’ und ‚schlechten’ Werken über Afrika, je nach der Konzeption und der Bewertung ihrer Zivilisation in diesen Werken. [1] Diop formte seine Ideen früh in seiner Karriere und änderte sie hernach kaum. In seinen Vorträgen und Artikeln aus den frühen Fünfzigerjahren vertritt er bereits die Thesen, die er sein ganzes Leben lang vertreten sollte. Diops kontroverseste Theorie ist sicherlich diejenige, die besagt, dass die alten Ägypter eigentlich Schwarzafrikaner gewesen seien. Das antike Griechenland, der Ursprung der westlichen Zivilisation, wurde von den Ägyptern stark beeinflusst, und dementsprechend gross wäre die europäische Schuld gegenüber einer schwarzafrikanischen Zivilisation, wenn es sich bei den Altägyptern denn um eine solche handelte. Dieser Gedanke wird im Westen seit dem 18. Jahrhundert gescheut und gleichsam exorziert.2 Die Frage nach der Rasse der antiken Europäer wurde im 18. und im 19. Jahrhundert gleichsam als Nebenprodukt des ‚wissenschaftlichen Rassismus’ gestellt.3 Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts existiert ein Konsens in der Forschung, wonach die Anwendung moderner Vorstellungen von ‚Rassen’ und ‚Ethnien’ auf das alte Ägypten anachronistisch ist. Im Feld der afrozentrischen Historiographie und des schwarzen Nationalismus ist aber wieder eine Debatte aufgekommen, in deren Rahmen insistiert wird, dass das alte Ägypten eine ‚schwarze Zivilisation’ sei. Zum Beweis wird die ethnische Zugehörigkeit verschiedener Adliger aus dynastischen Zeiten in den Blick genommen, darunter beispielsweise Tutankhamun, Kleopatra, aber auch das Modell der Sphinx bei Gizeh. Gemäss Diop begründete diese schwarze ägyptische Zivilisation nicht nur die wichtigsten Aspekte menschlicher und intellektueller Entwicklung, sondern unterschied sich von eurasischen Gesellschaften durch ihre matriarchalische, sprituelle, friedliche und humanistische Art. Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die griechische Antike und mit ihr die europäische Zivilisation als solche stark von dieser womöglich ‚afrikanischen’ ägyptischen Kultur beeinflusst wurde, so muss sich – dies Diops Forderung – Afrika auf den Glanz dieser alten Zeiten zurückbesinnen und die kolonialistischen und rassistischen Mystifikationen ablehnen, welche diese glanzvolle Epoche überdeckten. Der Weg in eine bessere Zukunft würde sodann über die Lektionen der alten Philosophien aus dem Nildelta führen.4
Es ist interessant, dass in einem grossen Ausstellungsprojekt wie The Short Century. Independence and Liberation Movements in Africa 1945-1994 – kuratiert vom bereits erwähnten Okwui Enwezor – kaum auf Cheikh Anta Diop eingegangen wird. Das ist vielleicht mit dem etwas dramatischen und polemischen Duktus erklärbar, in dem Diops Schriften abgefasst sind – sie laden Kontroversen und Vorwürfe mangelnder methodologischer Stringenz geradezu ein. Zudem fokussierte Enwezors Ausstellungsprojekt nicht auf die frankophonen Regionen Afrikas. Wie dem auch sei: Diops Einfluss war gross; er war eine politisch aktive Figur, die viel zur Erneuerung des afrikanischen Selbstbewusstseins beitrug, das durch Kolonialismus und Versklavung beschädigt worden war. Diop war schon zu Jugendzeiten in Paris im Rassemblement Democratique Africaine aktiv, und er wirkte an der Politisierung der antikolonialistischen Bewegung mit. Als er 1960 in den Senegal zurückkehrte setzte er seinen lebenslangen politischen Kampf fort.5 Aimé Césaire6 war ihm eine Inspirationsquelle, und da Diop kein Literat war, versuchte er die afrikanische Identität aus einer streng wissenschaftlichen und soziohistorischen Perspektive neu aufzubauen. Er war sich der Schwierigkeiten einer solchen Unternehmung bewusst und warnte: „Es ist besonders wichtig, dass wir es uns nicht zu leicht machen. Es könnte verführerisch sein, die um nationale Unabhängigkeit kämpfenden Massen zu verführen, indem man sich im Umgang mit wissenschaftlichen Tatsachen Freiheiten herausnimmt, indem man eine mythische, geschönte Vergangenheit konstruiert“. Diop war überzeugt, dass der politische Kampf afrikanischer Völker um Unabhängigkeit nicht gelingen konnte, wenn die zivilisierende Rolle der Afrikaner seit der Zeit des alten Ägypten nicht anerkannt würde. Ein „afrikanischer Historiker, der dem Problem Ägypten ausweicht“, war ihm ein lebender Widerspruch.
Diop stützte seine Argumente mit Verweisen auf antike Autoren wie Herodot oder Strabo. Wenn Herodot beispielsweise schreibt, dass das Volk der Kolchen mit den Ägyptern verwandt sei, so beschreibt er sie als „schwarz, mit gelockten Haaren“7. Solche Aussagen dienten Diop als Beweis für seine Theorie, dass die alten Ägypten denselben Phänotyp hatten wie moderne Schwarzafrikaner. Seine Interpretation der anthropologischen Daten (beispielsweise die Rolle des Matriarchats) und der archäologischen Funde liess ihn schliessen, dass die ägyptische Kultur eine schwarzafrikanische Kultur war. Er war ausserdem überzeugt, dass die westafrikanische Wolof-Sprache mit der altägyptischen Sprache verwandt sei. Diops Argumente für eine Einordnung des alten Ägypten in den kulturellen und ethnischen Kontext Afrikas stiessen auf Widerspruch und Ablehnung. Auffallend war das offenbare Bedürfnis, die Bevölkerung des Nildeltas auf arbiträre Weise in Stammescluster zu unterteilen. Die oft unfundierte Forschung wurde zuweilen selber als rassistisch bezeichnet, aber Diops frühe Verurteilung der Privilegierung einer europäischen Perspektive (1954 in seinem Werk Nations Nègres et Culture) wurde von der späteren Forschung gestützt.8 Diops Urteil, wonach die Forschung des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts auf rassistischen Ansichten über Afrikaner basiere, wirkte polarisierend, als er er zwischen den Fünfziger- und den Siebzigerjahren immer wieder aussprach – die Forschung über Afrika war zu jener Zeit noch vom zuvor erwähnten wissenschaftlichen Rassismus geprägt.
Die Ausstellung in der Kunsthalle Bern versucht nicht unbedingt, den wissenschaftlichen Status des Cheikh Anta Diop neu zu evaluieren – das überlassen wir den kompetenten Forscherinnen und Forschern. Vielmehr möchte sie eine faszinierende historische Persönlichkeit beleuchten und damit auch ein spezifisches ideologisches Klima reflektieren, das im Afrika der Sechzigerjahre dominant war – in einer Zeit also, da die Vorstellung einer afrikanischen kulturellen Einheit formuliert und gefördert wurde. Das mag kontrovers anmuten, aber es ist eine Tatsache, dass Cheikh Anta Diop aufgrund seiner Studien über die Ursprünge der Menschheit und über präkoloniale afrikanische Kultur als zentrale Figur in der Entwicklung „afrozentrischen“9 Denkens gelten darf. Diop fand sich gleichsam im Zentrum eines diskursiven Sturms und eröffnete der Forschung dennoch neue Wege, gab einer neuen Generation erlösenden Glauben an ihre kulturellen Wurzeln, und zeichnete letztlich ein poetisches Bild von Grösse und Würde. Sein gewagter Traum einer erhabenen ‚Wiege der Zivilisation’ kommt vielleicht dank ebendieser Poetizität der Wahrheit näher als die prosaischen Widerlegungsversuche seiner Kritiker, und im Zeichen kontinuierlichen Fortschritts in der Forschung erweist sich Diops Sichtweise als realistischer als jeder Traum. Diop ist wohl der einzige Akademiker der Welt, nach dem eine Band ein Album benannte: Die senegalesische Gruppe Super Diamono gab nach Diops Tod einer ihrer bekanntesten LPs Diops Namen als Titel – eine Tatsache, die Rückschlüsse auf Diops enorme Prominenz und Beliebtheit zulässt.
Wir danken Mohamed Ndiaye-Kingué und Vanessa Van Obberghen für ihre Recherchen in Dakar und für die Vorbereitung der Materialen die in der Kunsthalle Bern ausgestellt werden.

[1] Valentin Yves Mudimbe, The Invention of Africa, (Bloomington: Indiana University Press), 1988, p. 78
[2] Siehe auch: Black Athena: The Afroasiatic Roots of Classical Civilization, ein kontroverses historisches Werk von Martin Bernal in drei Bänden. Die Studie dreht sich um die griechische Antike; Bernals Thesen drehen sich um die westliche Wahrnehmung des antiken Griechenlands unter Berücksichtigung seiner afrikanischen und asiatischen Nachbarstaaten. Bernal postuliert, dass diese Wahrnehmung im 18. Jahrhundert eine Veränderung erfuhr: von jenem Zeitpunkt an stritten westliche Akademiker jegliche signifikanten asiatischen und afrikanischen Beiträge zur Kultur des antiken Griechenland ab. Black Athena entwickelte einen starken Einfluss auf die afrozentrischen Bewegungen, da das Werk eine nicht-eurozentrische Theorie über den Ursprung westlicher Zivilisation aufstellt. Das Buch entfachte eine Forschungsdebatte: Einige Kritiker behaupten, dass alle Studien über den Ursprung der griechischen Zivilisation vom fundamentalen Rassismus des 19. Jahrhunderts eingefärbt gewesen seien, während andere die spekulative Stossrichtung von Bernals Hypothesen kritisierten, aber auch seine unsystematische und sprachwissenschaftlich gesehen inkompetente Auseinandersetzung mit Etymologien und seine naiven Analysen antiker Mythen und Historiographie.
[3] Die Rassenanthropologie, abwertend als wissenschaftlicher Rassismus bekannt, bezeichnet die Verwendung wissenschaftlicher oder wissenschaftlich anmutender Methoden und Theorien zwecks einer Untersuchung der Differenzen zwischen menschlichen Rassen. Dieser wissenschaftlich gestützte Rassismus spielte von ungefährt 1880 bis 1930 eine Rolle. Der Begriff wissenschaftlicher Rassismus bezeichnet somit die zeitgenössischen und historischen wissenschaftlichen Theorien, die Anthropologie (vor allem physische Anthropologie), Anthropometrie, Kraniometrie und andere Disziplinen zur Anwendung bringen, um anthropologische Typologien zu erstellen, welche die Klassifikation der Menschen in physisch klar unterscheidbare Rassen erlauben.
[4] Stephen Howe, Afrocentrism. Mythical Pasts and Imagined Homes, (London-New York: Verso), 1998, pp. 165-166.
[5] Diop gründete im Verlauf von über 25 Jahren drei politische Parteien, welche den Oppositionsblock im Senegal bildeten. 1962 war Diops Partei, die auf der Basis der Ideen aus seiner Publikation Black Africa: the economic and cultural basis for a federated state operierte, zu einer ernsthaften Bedrohung für das Regime des damaligen Präsidenten Léopold Senghor geworden. Diop wurde verhaftet und starb beinahe im Gefängnis. Das Buch ist eine Art Manifest, das Diops politische Zielsetzungen enthält. Er postuliert, dass nur ein geeinter und föderierter afrikanischer Staat zu positiver Entwicklung fähig sein würde. Diese kritische Schrift ist nicht nur eine Studie über Afrikas kulturelle, geographische und historische Einheit, sondern auch über das Potenzial des afrikanischen Kontinents, durch Energie- und Rohstoffgewinnung und Industrialisierung zu Wohlstand zu gelangen. Diop und andere Mitglieder seiner Partei setzten ihren politischen Aktivismus fort, obwohl Präsident Senghor sie mit einer bestimmten Anzahl von Beamtenpositionen ruhigzustellen versuchte. Diop verweigerte sich allen Verhandlungen bis folgende Bedingungen erfüllt waren: Die erste besagte, dass alle politischen Gefangenen sofort befreit werden sollten, und die zweite, dass es zu öffentlichen Diskussionen über Regierungskonzepte und politischen Programmen kommen sollte, nicht aber über die Verteilung von Regierungsposten. Weil sich die Senghor-Regierung weigerte, politische Gefangene freizulassen, blieb Diop den politischen Ereignissen in den Jahren von 1966 bis 1975 aus Protest fern.
[6] Aimé Fernand David Césaire (26. Juni 1913 – 17. April 2008) war ein französischsprachiger Dichter, Autor und Politiker aus Martinique. Er zählt zu den Begründern der Négritude-Bewegung in der franösischsprachigen Literatur.
[7] Herodot, History, Book II.
[8] Philip L Stein und Bruce M Rowe, Physical Anthropology, (McGraw-Hill), 2002, pp. 54-166
[9] Afrozentrismus ist eine ethnozentrische Ideologie, welche die Wichtigkeit der afrikanischen Völker betont und diese als homogene Gruppe betrachtet, welche in Kultur, Philosophie und Politik historische Wirkung entfaltet. Viele bedeutende Gedanken und Thesen des modernen Afrozentrismus wurden zuvor von Cheikh Anta Diop formuliert, haben teils aber auch eine längere und obskurere Geschichte. Siehe: Stephen Howe, Afrocentrism. Mythical Pasts and Imagined Homes, (London-New York: Verso), 1998, p. 163
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