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Cantonale Berne Jura
Fabrizio Di Salvo, Floyd Grimm, Bernhard Hegglin, Lisa Hoever, Nadine K.Cenoz, Barni Kiener, Lis Kocher, Sapir Kesem Leary, Marius Lüscher, Selina Lutz, Lorenzo le kou Meyr, Dominic Michel, Nusser Glazova, Aline Witschi
2. – 14. März 2021
kuratiert von Manuel Burgener, Valérie Knoll und Julia Künzi
Die Klangskulptur von Fabrizio Di Salvo (*1981, lebt in Basel) setzt sich aus industriellen Schläuchen, Ventilen und einem Kompressor zusammen. In einundzwanzig Kompositionen, welche die akustischen und kinetischen Eigenschaften dieser Skulptur erforschen, presst der Kompressor Luft durch die Schläuche, sobald er Bewegung im Raum registriert. Dann fängt osz~ an zu leben, atmen, zucken und stottern. Die Arbeit erinnert an einen Tentakel schwingenden Oktopus, hat was von elektronischer Musikalität und stochastischer Objekt-Choreografie. Die Vielgestalt ist osz~ zu eigen, die Skulptur bewegt sich zwischen Organismus und Maschine. osz~ lässt über
Ungeahntes nachdenken, das der Einbezug künstlicher Intelligenz in unseren Alltag bringen kann.
In den grossformatigen Malereien von Floyd Grimm (*1993, lebt in Biel) öffnen sich nervöse Räume. Wie in wilden Träumen, im erweiterten Bewusstsein eines LSD-Trips oder einfach dem Internet treffen in ihnen kunsthistorische Referenzen, der Affe Donkey Kong, Hieroglyphenartiges und Formen aus dem Graffiti aufeinander. Das Zusammenspiel dieser Akteure und Zeichen ist für den Künstler intuitiv, seine malerischen Techniken und Materialien divers. Die assoziationsreiche malerische Sprache spiegelt sich in den Titeln, so lässt Nice Try, Lisa, an die Simpsons denken. Mit dem hochgehobenen Daumen fragt der Affe nach dem «like» und bringt das Paradigma der Aufmerksamkeitsökonomie in den Bildraum.
Im Hohlraum des tiefgezogenen Türstoppers findet sich das Innenleben eines Lautsprechers. Aus der Membran klingt dumpf Hip-Hop eines fiktiven Radiosenders aus dem Computerspiel „The Sims“, der populärsten PC-Lebenssimulation überhaupt. Die Songs in Bernhard Hegglins (*1989, lebt in Zürich) Skulptur sind Fast-Kopien populärer Hits. Gerappt werden sie in simsischer Sprache (eine Mischung aus Navaja, Latein, Englisch, Ukrainisch und Tagalog), wofür sogar Sprachkurse angeboten werden, deren Nutzen aber auf das Spiel beschränkt bleibt. Die Abwechslung versprechenden Radiowellen wiederholen die immer gleiche Playlist. In der Zuschaltung bricht diese simulierte Welt in den Ausstellungsraum ein und lenkt die Aufmerksamkeit auf dessen eigene Wirklichkeit.
Lisa Hoever (*1952, lebt in Bern) versteht die hier präsentierten Bilder als Teile eines fortlaufenden Experiments; gemalt sind sie in Ölfarbe auf Papier. Während einige in gedämpften Farben gehalten sind, leuchten andere intensiv. Die Kompositionen bilden sich aus Umrissen und Flächen, Kurven und Ecken, aus Ästen und Blättern. Sie zeigen Doppelungen, einige spielen sich innerhalb der Kompositionen ab, andere stehen komplementär zu einem Gegenüber. Die Linien sind mittels Schlepper, einem Pinsel mit langen, weichen Borsten gezogen. Dieser tut, was sein Name verspricht: Er trägt widerspenstig die Farbe mit, bis sie zu dünn oder zu trocken wird und er neu angesetzt werden muss. In seiner Überlänge entzieht er sich einer genauen Lenkung. Auch den Kompositionen sind diese Eigenschaften, die Sperrung und das Zusammenspiel, zu eigen. Sie entstehen durch Zufälligkeit und Kontrolle, und werden gelegentlich durch das Übergiessen zu etwas Neuem.
Nadine K.Cenoz (*1989, lebt in Bern und Buenos Aires) hat in Zürich und New York Architektur und Kunst studiert. Im Big Apple befasste sie sich mit den Übersetzungsfehlern, die entstehen, wenn Projektionen über Orte auf materielle Gegebenheiten treffen. Als Reaktion auf die lokale Landschaft legte sie eine Serie fiktiver Portraits von New Yorkern an. Diese Sammlung diente ihr als Grundlage für ihre Zeichnungen. Die Zeichnungen werden geübt und wiederholt, eine produktive Friktion zwischen Lesbarkeit und Entfremdung wird erzeugt, die Momente des Beobachtens im Machen neu gesehen. K.Cenoz interessiert sich für diesen Zwischenraum zwischen dem Unverrückbaren und der Flüchtigkeit. Mit der zeichnerischen Methode überspannt sie beide Enden dieses Gegensatzes und spinnt Narrative aus dem Geschehenen.
Sich nicht im Strom der breiten Masse treiben zu lassen, ist für Barni Kiener (*1965, lebt in Bern) ein Merkmal von Eigenständigkeit. Sie ist der vitale Antrieb hinter seiner Kunst. Der Ruderer von 2020 ist in einer Ecke installiert. Das Heck des Kanus ist mit schwarzer Wandtafelfarbe auf die eine Wand gemalt, den daran anschliessenden Bug bildet ein ebenfalls schwarz gestrichenes Brett auf der ums Eck liegenden Wand. Die Betrachtenden sind aufgefordert, die beiden Teile visuell zu einem Ganzen zu verbinden, was optische Anstrengung erfordert, bis sich der als Silhouette gestaltete Ruderer vor der weissen Wand abhebt und wie über einem weiten Meer zu schweben scheint.
Lis Kocher (*1942, lebt in Magglingen) beschäftigt sich mit synästhetischen Wirkungen in der Malerei, mit dem Übergang von innerer Verfassung zu äusserer Form und so auch mit Prozessen des Erkennens selbst. Die Bilder der Reihe Präzise Unschärfe wirken an manchen Stellen transparent, dann wiederum signalhaft und leuchtend. Die Farbtöne beziehen sich auf Duftnuancen und bilden so ein eigenes sensorisches System. Die vermeintlich erkennbare räumliche Struktur lässt sich nicht auf einen Massstab ein, sie täuscht und wandelt sich während der Betrachtung zur ornamentalen Oberfläche. Diese suggestive Abstraktion schafft einen Raum von Verschwimmen und Eintauchen, deren Balance durch bildimmanente Gesetze hergestellt wird.
Aus Sapir Kesem Learys (*1988, lebt in Bern) Bildern strahlt etwas Vergnügtes. Mit unterschiedlichen Materialien bemalt die Künstlerin Leinwände und hölzerne Untergründe in Farben und Ornamenten. An unsichtbaren Leiern zupfend tanzen nackte Menschen im Spagat durchs Zimmer und werden von Fantasiewesen auf die Zehen geküsst. Erst auf den zweiten Blick scheint hinter der Maske des Harmlosen auf, dass hier feministische Anliegen und die Erfahrung der kulturellen Assimilation der in Israel aufgewachsenen Künstlerin verhandelt werden. Das Persönliche wird zum Politischen. Im fröhlichen Sprung in Splitted Selves steckt auch die Schizophrenie, das Alleinsein mitten in der Gesellschaft und ein Augenblick von alltäglichem Sexismus.
Marius Lüscher (*1974, lebt in Bern) verfolgt das Interesse an der Abstraktion. Der Künstler geht Gesten, Strichen und kalligrafischen Linien auf den Grund. Anhand dieses Vokabulars schneidet und reduziert er bis zu dem Punkt, an dem die formalen Setzungen stimmen. Seine Arrangements übersetzt er in einem weiteren Schritt auf die Leinwand oder durch Drucktechniken auf Papier. Dabei finden sich fein lasierte Flächen, gestische Pinselstriche und Striche von solcher Breite, dass ihre Struktur zur Fläche wird. Die ausgestellten Kompositionen sind eine Serie im Offset bedruckter Monotypien. Entgegen dem seriellen Charakter, der dem Konzept und Prozess der Anwendung eines eigentlich industriellen Druckverfahrens innewohnt, ist jedes der Blätter ein Unikat.
Selina Lutz (*1979, lebt in Bern) sucht nach Gesichtern, die eine gewisse Uneindeutigkeit ausstrahlen. Gesichter, die sprechen, ohne dass Worte notwendig sind. Etwas, das von ihnen ausgeht, fasziniert; Selina Lutz sucht sich mit ihnen zu verbinden. Die Bilder können sie überall finden, in Zeitschriften, einer Werbung, auf Instagram. Die Künstlerin kann in der affektiven Rhetorik einer Werbung einen besonderen Zauber entdecken und versucht das schwer zu Beschreibende zu bannen. Mit Ölpastell schminkt sie das Gesicht auf die weisse Papierhaut. In der malerischen Annäherung entpuppen sich neue Charaktere, es spielt keine Rolle mehr, woher das Gesicht sie einst rief. In der Reihe Come, come, come, deren Portraitvorlage von der Rückseite eines Magazincovers stammt, hat Lutz eine Frau gemalt, die in einem dunklen Wald erscheint, sie hält eine Sphinx-Katze. Die Unheimlichkeit der Wiedergängerin mit dem Tier lässt vermuten, dass Lutz eine Art Pakt mit dem Bildergeist eingegangen ist, der einen nun als Betrachter*in zu verhexen scheint.
In den Bildern von Lorenzo le kou Meyr (*1967, lebt in Biel) finden sich malerische Gegensätzlichkeiten: weder abstrakt noch figurativ, weder Landschaftsdarstellung noch Detailaufnahme; die Pinselstriche beschreiben grobe Gesten und verschwimmen an anderen Stellen zu konturlosen Flächen. In diesen Momenten finden sich Atmosphären flüchtiger Zwischenzeiten. Die ausgestellte Malerei Als alles anders kam (a blue feary tale) spielt mit Spiegelungen, durchbrochen von gegenständlichen Andeutungen. Die Betrachtung bewegt sich zwischen Erkennen und Fantasieren, zwischen der Erinnerung an längst Vergangenes und an vergessene Träume.
Ein Mob ist eine Bande. Schwer zu fassen trifft er sich im Halbdunkeln, es tauchen neue Mitglieder auf oder verschwinden wieder. Dominic Michels (*1987, lebt in Zürich) inwändig flaschengrün bemalte Gläser-Serien sind als solch bewegliche Gruppierungen zu denken. Die Monochromie tarnt die Gruppe zwar gut, jedem einzelnen Gefäss haftet dennoch ein Narrativ an. Die Details in der Form geben die jeweiligen Herstellungsprozesse, ihre Verwendung oder ihr Alter preis. Der Künstler interessiert sich für die kulturelle Bedeutung dieser Objekte, wie sich solche Zuschreibungen durch Verschiebungen verändern und in Mehrdeutigkeiten verästeln. Ein Hangeln und Baumeln an Strängen und Dingen, die sich fortlaufend zu Geschichten, deren Trägern und Sprache formen. Mob Mob Mob Mob Mob ist 2020 zum zweiten Mal an der Cantonale zu sehen, in einer anderen Formation als 2017, und stellt so die Frage, was sich bei zunehmenden Wiederholungen einschreibt.
Die Installation des Duos Nusser Glazova (Tereza Glazova *1996 und Julia Nusser *1991, leben in Zürich) setzt eine Landschaft aus Glasblumen zusammen. The Flowers lädt auf einen Spaziergang durch diese zerbrechliche Wiese, beschallt von Musik. Hervorgerufen wird ein Moment der Leichtigkeit, der ungetrübten Freude. Die Blumen tragen einlullende Namen wie Destiny Blue Winters oder Suzie Samy Smith, beworben wurde die Arbeit durch ein Kampagnenfoto. In der Adaption kommerzieller Rhetorik und in ihrer Stilisierung als Kunstfigur eignen sich Nusser Glazova die Versprechen der Werbung an. Sie spielen mit den banalen Eigenschaften und dem Verführungspotential von Konsumobjekten, deren Lieblichkeit durchaus auch etwas Unheimliches mitträgt.
Keramik in der Kunst nimmt meist die Form von Gefässen oder Figuren an und lehnt sich letztlich doch an das Vokabular und die Funktionalität von Gebrauchsund Dekorationskeramik. Aline Witschi (*1995, lebt in Biel) hingegen setzt für ihre Skulptur Keramik ein um etwas zu schaffen, was dieser Technik fremd ist: Eine Skulptur in der Gestalt eines zaunähnlichen Vorhangs. Jede Schlinge ein dünnes Halbrund aus gebranntem Steinzeug, so geformt, dass die Elemente, ineinander gehakt, ein fragiles Netz bilden, einen Zaun, der lieber durchlässig als resistent sein will. Witschi gelingt es, mit der traditionellen Technik und dem einfachen Material eine zeitgenössische Skulptur zu behaupten
Veranstaltungen
- Mittwoch, 12. Januar 2022, 12.30–14 Uhr
Kunstschaffende der Cantonale Berne Jura kochen für Sie: Ausstellungsbesuch mit Mittagessen! - Sonntag, 23. Januar 2022, 14 Uhr
Rundgang durch die Ausstellung mit Ursina Leutenegger (Kunstvermittlung, Kunsthalle Bern)