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Einleitende Bemerkungen zu einer (un)möglichen Ausstellung von der Stadt Bern wurde ich angefragt, eine Ausstellung zu organisieren, die sich mit dem intellektuellen und geistigen Erbe Harald Szeemanns befasst. Ich wollte keine Gedenkausstellung machen (was als Projekt auch eher in ein Kunstmuseum passen würde und mit Sicherheit mehr dokumentarischer Art wäre), ich wollte ebenfalls nicht in eine Vergangenheit eintauchen, die Herrn Szeemann an einem Ort – der Kunsthalle Bern – zelebrieren würde, den er als künstlerisches Labor der Gegenwart definierte, wo er aber dermassen grosse Schwierigkeiten hatte, seine Ideen zu verteidigen, dass er schliesslich beschloss, ihn zu verlassen…Harald Szeemanns unabhängige Organisation AGENTUR FÜR GEISTIGE GASTARBEIT hatte die Kommunikation seiner Vision einer radikal anderen Dimension von Energie, Leidenschaft und Intensität zum alleinigen Ziel. Jede seiner Ausstellungen, von den frühen Siebzigerjahren an bis zum Schluss, war definiert als “geistige Gastarbeit”, entstanden im Dienste einer “möglichen Visualisierung eines Museums der Obsessionen”.Das einzige Museum, das ihn wirklich interessiere, sagte Szeemann, sei dasjenige in seinem Kopf: eine imaginäre Entität einer anderen Welt, eine Art utopische Sphäre, auf welche die tatsächliche Ausstellung jeweils nur eine Anspielung sein konnte. Ein Museum der Obsessionen, wie Szeeman insistierte, “in dem keine Obsessionen erkennbar sind. Ich habe keinen Grund, zu verweilen”. So wollte ich eine Ausstellung kuratieren, die sich sowohl mit dem komplizierten und vieldeutigen Begriff des Respekts (im Zusammenhang mit der „bigger than life“ -
Geschichte der internationalen Beachtung von Szeemann als Kurator aber auch mit dem Reflex eines Establishments einer Provinzstadt, einen ehemaligen Rebellen zu zelebrieren) als auch mit einigen von Szeemanns Obsessionen (die nicht historische Annäherung, der Schaffensprozess, das Visionäre, die individuelle Mythologie, das Gesamtkunstwerk, die Enzyklopädie…), transferiert an diesen (un)möglichen Ort: Villa Jelmini.Die aktuelle Ausstellung funktioniert als eine andere oder eine weitere Heterotopie in Beziehung zu einer Gruppe ikonischer Bilder des 20. Jahrhunderts einerseits, andererseits zu Szeemanns utopischem Museum der Obsessionen. Villa Jelmini berücksichtigt Szeemanns Ausstellungen als mnemonische Spuren, wobei bereits unfreiwillige Symptome reaktivierende Elemente enthalten können. So kann der tatsächliche Gravitationsfokus der Ausstellung als realer Raum mit den Eigenschaften einer „Abweichung“ oder „Krise“ innerhalb eines komplexen Schaltpunkts zwischen erwarteter Zukunft und rekonstruierter Vergangenheit betrachtet werden. Was übrig bleibt, ist die Ausstellung als unabhängige Organisationsstruktur.Das kuratorische Erbe Szeemanns bildet den Ausgangspunkt einer Ausstellung, die die (Un)möglichkeit, einen Raum zu konstruieren, in welchem unterschiedliche Erinnerungen und Traditionen aufeinander treffen, analysiert. Ist es möglich, unserem Gedankensystem ein „Anderes“ gegenüberzustellen und wie können wir diese Andersartigkeit spezifizieren? Die Unmöglichkeit der gemeinsamen Grundlage in einem erweiterten Kunstverständnis bildet womöglich das interessanteste Ergebnis von Szeemanns kuratorischer Praxis. Was zerstört wird ist die „Site“, der „stumme Boden“, auf welchem die verschiedenen Entitäten nebeneinander gestellt werden können. Die Unmöglichkeit der Enzyklopädie ist die Unmöglichkeit eines bestimmten Gedankens, in sich selbst eine Abweichung zu denken ohne Relation zur Identität: Im Hegelianischen Terminus die Andersartigkeit ohne Beziehung zu Opposition, Widerspruch und letztendlich Grundlage. Sich auf dieses „Stören der Identität“ konzentrierend, beschäftigt sich die Ausstellung mit Heteroklisie und Heterotopie und verbindet sie mit der Aphasie: Dem Verlust eines allgemeinen Verständnisses, Dinge zu ordnen und zu benennen.Villa Jelmini: Ein Ort jenseits des Üblichen, der Peripherie – in ihrem nicht-geopolitischen Sinn – oder des Verdrängten. Im Gegensatz zur Utopie, mit ihrer symbolischen Bedeutung eines idealen Ortes, welcher physisch nirgendwo ausser in seiner Darstellung existiert, wird Villa Jelmini zu einem tatsächlichen Ort „irgendwo“, dessen Nichtmessbarkeit ihn zu einem Ort der Unstabilität und der Zuwiderhandlung macht.Der Begriff „Respekt“ oder „Ehrfurcht“, als das andere zentrale Moment der Ausstellung, ergibt eine seltsame Kombination aus Furcht und Ehre. Furcht, die ehrt; Ehre, die durchdrungen ist von Furcht. Doch welche Art der Furcht könnte dies sein? Bestimmt nicht eine Furcht, die uns angesichts von etwas Schädlichem oder Ängstigendem befällt – eine solche Furcht würde bewirken, dass wir uns verteidigen oder in Sicherheit bringen. Diese Ausstellung sucht im Gegensatz dazu die Gefahr. Sie möchte einen Ort der Verwundbarkeit schaffen, an dem sich die Geister von Szeemanns „Obsessionen“ niederlassen. Die Ausstellung ist vom „Negativ“ der Ausstellung her konstruiert. Verbinden wir ihre metonymischen Fragmente im Gedächtnis, können wir uns einer Ausstellung annähern, die wir nicht wirklich gesehen haben. Einer „Ausstellung“, die zu einem heterogenen psychischen Objekt wird, welches sich aus Kunstwerken zusammensetzt, die in Raum und Zeit verstreut sind.(„Villa Jelmini“ bezieht sich auf einen Rotwein, den Szeemann gerne trank. Sein Archiv bewahrte er grösstenteils in leeren Villa Jelmini – Weinkartons auf)Die Ausstellung zeigt dreizehn Schwarzweissfotografien von Balthasar Burkhard, welche Harald Szeemanns „Fabrica“, sein legendäres Archiv, dokumentieren, in welchem die meisten Dokumente in leeren Villa Jelmini-Weinkartons aufbewahrt wurden. Armen Eloyan, Roberto Cuoghi und Ivan Grubanov wagen sich ans vieldeutige Gebiet von Portrait als Hommage heran. In unmittelbarer Nähe zu einem Portrait seines verstorbenen Onkels präsentiert Cuoghi eine interaktive Installation, die uns in eine kraftvolle Kunst-Welt-Spieler-Galaxie hinein katapultiert und die sich wiederholt in Eloyans Zeichnungen einer „geheimen Gesellschaft“ von Männern, die verspiegelte Sonnenbrillen tragen, während Grubanovs „Study of my Father“ in unmittelbarem Zusammenhang steht mit der neusten Kriegsgeschichte in Jugoslawien, einer politischen und sozialen Tragödie, die die Beziehung zwischen Vater und Sohn bestimmte. Tonico Lemos Auads Werk verändert sich häufig im Laufe der Zeit, so wie die Zeichnungen auf Bananen. Sein jüngstes Werk ist inspiriert worden von Liebes-, Familien- und Freundschaftsbotschaften die er auf billigem Schmuck gefunden hat, von der Halskette mit dem Spruch “My heart says forever“ bis hin zum Armband mit dem Spruch „‘I love you more today than yesterday but less than tomorrow’. Diese Aussagen stellen den monetären oder sentimentalen Wert einer Sache – existent oder nicht, gefunden oder verloren – in Frage. Wim Delvoye tätowiert seit Jahren als “art statement” Schweine, seit kurzem hat er einen traditionellen chinesischen Bauernhof gemietet um seinem Statement noch mehr Gewicht zu verleihen. Er nennt dies “seine Kunst ernten”. Im Moment leben 24 tätowierte Schweine auf dem Bauernhof, manche mit traditionellem Amerikanischem “flash design”, andere mit Russischen Gefängnis-Tätowierungen – eines der Schwein ist sogar bedeckt mit dem Louis Vuitton – Markenlogo. Während die Tätowierungen selber keine spezifischen Aussagen enthalten, weist Delvoye darauf hin, dass mit dem Wachsen der Schweine die Tätowierungen sich dehnen und verblassen, eine visuelle Erinnerung daran, dass auch menschliche Illusionen und Wünsche mit der Zeit verblassen. Delvoyes umstrittene Art Farm in China ist in der Kunsthalle Bern mittels Web Cam-Installation zugegen. Kristina Braeins improvisierte Interventionen mit alltäglichen Materialien fordern die den Raum bestimmende Logik heraus. Ihre Arbeiten drücken Potentiale einer anderen Art aus und formulieren einen Ausweg aus der erstickenden Enge von zuviel programmiertem und instrumentalisiertem Raum innerhalb unserer Gebäude. Gardar Eide Einarsson arbeitet mit den subversiven kontextuellen Strategien des subkulturellen Operators, besudelt jedoch die Stilpolitik und die Darstellung von sozialen Fakten durch künstlerische Fiktion, während Marius Engh bestimmte Situationen aufzeigt, in welchen die gelegentlichen archivierenden Kräfte der Natur den künstlichen Ablauf einer konstruierten Umgebung verletzen. In Jaime Gilis Zeichnungen wird das grafische Zeichen in einer übersteigerten Sichtbarkeit der Explosion oder des Zusammenbruchs angewandt, resultierend aus den scharfkantigen popartigen Bildern mit verschiedenen Andeutungen der Konsequenzen von Geschwindigkeit und Rhythmus.Die Skulpturen von Boy Stappaerts sind gekennzeichnet von einem beinahe unmöglichen Mass an perfekter Oberfläche, Glattheit und mathematischer Vollkommenheit, ähnlich dem industriell gefertigten Designobjekt. Gleichzeitig übertrifft er solche Assoziationen mittels einerseits technischer Komplexität und andererseits inhaltbezogener Auswirkungen seiner Skulpturen. Innerhalb umfassender Installationen funktionierend sind sie Anregung für eine alternative Ordnung. Pseudoarchitektonische und pseudodekorative Elemente werden in einer Konstellation kombiniert, deren unmittelbarer Zweck ziemlich verborgen bleibt. Michael S. Riedels Trugbilder operieren auf verschiedenen Ebenen – als Neuinterpretationen von bereits existierenden Kunstwerken, Neuinszenierungen von Events und originalgetreuen Abbildungen von architektonischen Strukturen. Für die Ausstellung in der Kunsthalle besucht er nochmals Josef Kosuths “One and Three Chairs” von 1965 und vertieft den besinnlichen Aspekt des Originals indem er die Stühle als Stützen innerhalb einer Performance benutzt. Tommy Simoens konzentriert sich auf Elemente des Ausstellungs-Designs: Wände, Grenzlinien und Geräte beschwören eine gestalterische Arbeit herauf, welche nur im Geiste existieren kann. Das Künstlerkollektiv Henry VIII’s Wifes wirbt in Bern für die Idee, den Tatlin Tower zu erbauen, welcher ursprünglich für die 3. Internationale konzipiert wurde und seither nur als Modell existiert, indem es die Propagandamaschinerie parodiert und indem es eine hoch stehende Diskussion und Debatte führt.
Philippe Pirotte
Villa Jelmini präsentiert die folgenden Publikationen:
• Visitor von Ivan Grubanov, gemeinsam herausgegeben von dem Museum of Contemporary Art in Belgrad und der Kunsthalle Bern. Mit Texten von Gerardo Mosquera, Philippe Pirotte, Martina Martic und Ivan Grubanov
• Eine Neuauflage des Katalogs “Live in your Head: When Attitudes Become Form” von Harald Szeemanns einflussreicher Ausstellung und eine Neuauflage des ersten Teils eines historischen Überblicks über die Ausstellungen in der Kunsthalle Bern: Von Hodler bis Antiform.
• Ein Katalog zu Villa Jelmini: The Complex of Respect wird im Laufe der Ausstellung gedruckt.Spezialanlässe:
• 26. Januar, 19.00 Uhr: Buchvernissage „Visitor“ von Ivan Grubanov mit politischer Diskussion über Kriegsverbrecherprozesse und deren Wahrnehmung in der Kunst. Mit Ivan Grubanov, Philippe Pirotte und Gästen
• 27. Januar, 14.30 Uhr : Buchvernissagen Neudruck Katalog „When Attitudes Become Form“ und „Von Hodler bis Antiform“. Mit Fred Zaugg, Roman Kurzmeyer, Moritz Küng und Philippe Pirotte
• 27. Januar, 18.00 Uhr: Vernissage mit Sit-in „The Brain of the Panic Zone“ von Boy Stappaerts• 31. Januar, 18.00 Uhr: Öffentliche Führung
• 07. Februar, 18.00 Uhr: Öffentliche Führung
• 28. Februar, 18.00 Uhr: Öffentliche Führung
• 19. März, 16.00 Uhr: „Machbarkeit“. Die Künstlergruppe Henry 8 Wifes diskutiert mit Gästen über ihr Projekt einer Realisierung des „Tatlin-Towers“ in Bern
• 20. März, 18.00 Uhr: Vasif Kortun (Direktor Platform Garanti Contemporary Art Center) und Serkan Özkaya (Künstler) im Gespräch über den Versuch, eine 3D-Kopie von Michelangelos David zu realisieren im Rahmen der Istanbul Biennale 2005.
• 21. März, 18.00 Uhr: Öffentliche Führung
• 24. März, 18.00 bis 02.00 Uhr: Museumsnacht; Barbetrieb und Special Events
Öffnungszeiten:Mittwoch bis Sonntag 10-17 UhrDienstag 10-19 Uhr, Montag geschlossen