Archiv
African Film Institute, Daniela Catrileo & Nicole L’Huillier, Rohini Devasher, Nina Emge, Eric Gyamfi, Asako Iwama, David Koloane, Nyakallo Maleke, Sindi-Leigh McBride, Camilla Paolino, Raqs Media Collective, Slaven Tolj
Punya 2.0
17. Februar – 14. April 2024
Eröffnung am 16. Februar, 18 – 21 Uhr
Wandermönch der Strassen, und auch: Sinnlich! 1
Dieser Text war ursprünglich konzipiert als persönliche Einladung zu Punya 2.0 2 .
Ich wollte dich einladen, zu schauen, zu hören und die Ausstellung zu verdauen, und zu hören, was hochkommt, welche Farben, welche Lieder, welche Erinnerungen, Geschichten, Gerüchte und Irritationen ausgelöst werden. Um sie dann vorne an der Kasse zu erzählen. Einerseits könnten dadurch andere Welten entstehen, die ich verwenden oder kennenlernen kann. Dann dachte ich ernsthaft darüber nach, was eine Einladung voraussetzt 3 – sie setzt Vertrauen in die eingeladene Person voraus, dass der geleistete Beitrag interessant ist. Sie setzt voraus, dass es eine Infrastruktur gibt, um die eingeladene Person und ihre Antwort aufzunehmen.
Sie setzt auch voraus, dass die eingeladene Person in der Lage ist, die Einladung anzunehmen.
Seit einiger Zeit betrachte ich meine kuratorische Arbeit als eine «Holding Practice» 4 , und das bedeutet, dass der Ort, an dem ich arbeite, die Kapazität haben sollte, jemanden in seiner Gesamtheit zu halten 5 – nicht nur das übliche Künstlerhonorar, Transport- und Reisekosten, sondern auch zu überlegen, welche Fragen sich in der Institution stellen, welche Prozesse in meiner Arbeit unnötig sind und wie sich das auf diese «holding practice» auswirkt.
Kunsträume beschränken sich im Grossen und Ganzen darauf, Objekte als Vermögenswerte 6 zu behandeln und berücksichtigen kaum die kunstschaffende Person, deren Gender, Class, Race, Sprache, Papiere, Ressourcen – und das sind nur die oberflächlichsten Themen, die geklärt werden müssen, um einen Raum für die Kunstschaffenden zu öffnen, für ihre Praxis, ihre Interessen, ihr Vokabular und ihr Engagement. Die Einladung setzt voraus, dass die kunstschaffende Person und ihr Werk gehalten werden können, dass ihrem Interesse entgegengekommen wird.
In meiner Auffassung von Punya wurden Annahmen über die kuratorische Praxis dargelegt, Vermutungen über eine Schwarze Frau 7, die in einem kolonialen System ausgebildet wurde 8 , Stereotypen über mein Interesse, meine Interessen, die Verletzungen, von denen diese Annahmen sprechen, sowie die institutionellen Praktiken und ihre Problematiken. Eine eigenständige Praxis von «holding practice» zu gestalten, welche sich ständig verändert und erweiterte Sprachbegriffe voraussetzt, die selbst im Wandel begriffen sind.
Das Konzept von Punya 9 besteht darin, infrastrukturell zu denken und das Interesse von Kunstschaffenden und ihrer Praxis aufrechtzuerhalten. Mit jedem Text, in jeder Ausstellung inklusive deren Verwaltung, in Projekten der Kunsthalle Bern, in Gesprächen, Vorträgen und Diskussionen, setzte sich meine Praxis des Verlernens kolonialen Denkens als Arbeitsweise fort. Eine Praxis des Haltens ist ein Halten der Praxis; ist eine Praxis, die hält, die sich in der Art und Weise, wie sie hält, verändert; die das hält, was sich immer verändert. Es ist kein Festhalten, sondern ein flexibles Halten, ein Halten, das ins Wanken gerät.
In Punya 2.0 zeichnet Nyakallo Maleke intuitiv und leichtfüssig, und regt uns so zum Nachdenken an; Eric Gyamfi hört den Pflanzen in seiner Nachbarschaft zu und entwickelt Methoden der Fotografie, die von Botaniker:innen genutzt werden können; das African Film Institute bringt populäre Musikvideos in die Ausstellung ein und fügt Anmerkungen für die öffentliche Verbreitung hinzu; Rohini Devasher beobachtet den Mangel an Subjektivität in der wissenschaftlichen Beobachtung und dessen Auswirkungen auf das, was beobachtet wird; Asako Iwama verweist auf verpasste Verbindungen und Momente, die sich am Rande verschwommener Erinnerungen befinden; Nina Emge fordert uns auf, über das Wahrnehmbare hinaus zu lauschen; in Daniela Catrileo & Nicole L’Huilliers Arbeit hören wir die Mapuche-Kosmologie in der Gegenwart, die sich nicht vor dem Erbe des spanischen Imperiums scheut; das Team der Kunsthalle Bern haben wir gebeten, uns von den Blumen 10 zu erzählen, die ihnen durch den Kopf gehen; David Koloane spricht von Strassenhunden, die auf ein Regime der Säuberung treffen; Sindi-Leigh McBride geht durch Kollisionen; Camilla Paolino pfeffert die Luft mit einem feministischen Song aus den 1970er Jahren; Slaven Tolj liest die Psychogeographie von Kriegen, die achtlos geführt werden; Raqs Media Collective bringt Proviant für alle mit.
Punya 2.0 ist ein Moment des öffentlichen Zusammenseins; Kollisionspotenzial; Keimzelle; Teil eines andauernden Anspruchs an das Kuratorische, das Kunstwerke, Pflanzen, Texte, Klänge, Material, Verwaltung, Musik und Jahre umfasst.
Ich lade euch ein, durch diese Räume wie durch ein Labyrinth zu gehen, in dem die Differenz nichts weiter ist als eine Illusion, die verstohlen aufrechterhalten wird. Ihr seid eingeladen. Bringt eine Geschichte, eine Referenz, ein Lied, ein Lachen, ein Dilemma, eine Strategie, ein Hilfsmittel für überschwängliche Momente mit.
Punya 2.0 ist eine öffentliche Übung des Abwerfens, bei der ich eure Geschichten, eure Werkzeuge, Referenzen und Anekdoten sammle, um meine eigenen Wahrheiten zu zerrütten, die ich festhalte, während ich zum Schütteln einlade. 11
____________
1 Der Titel stammt aus einem Interview von 1984 mit Julias Eastman, als er gerade obdachlos war.
Er erwähnt darin, dass er ein sinnlicher (sensous) Mensch sei, was mich an Winnie Mandela denken liess, von der erwartet wurde, dass sie zölibatär blieb, während sie 27 Jahre lang auf die unvorstellbare Freilassung von Nelson Mandela aus dem Gefängnis wartete. Im fiktiven Roman The Cry of Winnie Mandela befasst sich Njabulo Ndebele mit den Erwartungen an südafrikanische Frauen, Treue und Loyalität zu zeigen, währenddessen Männer als sinnlich dargestellt werden und Treue nicht in Verbindung mit Monogamie gesetzt wird.
2 Die Einladung ist jetzt explizit, aber in Wirklichkeit ist jeder öffentliche Moment eine Einladung, sich zu bewegen und ein klein wenig bewegt zu werden. Es fühlte sich nicht richtig an, sie ausdrücklich an dich zu richten – ein Zwiespalt des Seins.
3 Eine Auslegung der Stereotype und Probleme der zeitgenössischen Kunstwelt und das Unbehagen, das ich empfand als Person, die nicht nur in einer gerechten Welt arbeiten möchte, sondern in einer Welt, die mich so akzeptiert, wie ich bin: Ocean Vuongs Essay The 10 books I needed to write my novel; ebenso Denise Ferreira Da Silvas Text How (2019) auf E-flux.
4 Meine Arbeit in der Kunsthalle Bern ist Teil einer umfassenderen _Punya_-Praxis, die danach fragt, was passiert, wenn wir ein ganzes Programm von Einzelausstellungen, Gruppenausstellungen, Einladungen, Korrespondenzen, Treffen, Mahlzeiten als ein ausgedehntes, sich über Jahre erstreckendes Ausstellungsprojekt betrachten.
5 «Ich wollte, dass diese Menschen so existieren, wie sie sind, voller Geschichten, aber nicht für eine Geschichte», schreibt Ocean Vuong über seinen Ansatz beim Schreiben.
6 In einem von Chimurenga veröffentlichten Chimurenganyana schreibt Stacy Hardy über Julias Eastman; Eastman sei einmal eingeladen worden, im Rahmen von John Cages Konzert aufzutreten, und während Eastmans Auftritt habe Cage erklärt: «Die Freiheit in meiner Musik bedeutet nicht die Freiheit, unverantwortlich zu sein!» Die Einladung, die Eastman erhielt, richtete sich nicht an Eastman, wie er war, sondern wie er wahrgenommen wurde, als dankbarer Mensch und als jemand, der sich an Regeln hält. Es gab keinen Raum für ihn, die Erwartungen der Einladung zu übertreffen. Hardy schreibt, dass er [Cage] trotz seines Geredes über Grenzüberschreitungen in Lärm/Musik, Leben/Kunst, den Sprung nicht wagen konnte. Seine ‹Anti-Kunst› war immer noch derselbe alte Scheiss: Naturgesetze wurden abgewertet, soziale Traditionen verharmlost, rebellische Gesten nur akzeptiert, so lange sie eingehegt blieben, eingesperrt in der Tradition, die sie zu leugnen versuchten. Cage als Cage.»
7 Denise Ferreira Da Silva schreibt in ihrem Text How (2019): «Aus dieser Perspektive ist es möglich, sich dem Wie auf eine allgemeinere, sogar abstrakte Weise zu nähern, ohne es zu formalisieren. Umgekehrt erhält das Wie eine unvergleichliche Materialität, gerade weil durch das Tun die vorhandene Anordnung des sozialen Kontexts mitschwingt (oder bricht, beugt, reflektiert), innerhalb derer dieses Tun als eine Leistung, eine Tat, eine Last oder ein Artefakt wahrgenommen wird – auch wenn es sich für die Schwarze Frau, die es tut, eher so anfühlt, als wären es alle vier Bewegungen auf einmal.»
8 Das Buch Mine Mine Mine von Uhuru Portia Phalafala reflektiert und beschreibt die Konstruktion des Patriarchats in Südafrika durch Minenarbeiter, die in ländlichen Dörfern geboren wurden, um als billige Arbeitskräfte in reine Männerwohnheime geschickt zu werden, zu denen Familien und Frauen keinen Zugang hatten.
9 Die erste Ausgabe von Punya wurde im Rahmen der vom Raqs Media Collective kuratierten Ausstellung In the Open or In Stealth im Oktober 2018 im Museu d’Art Contemporani de Barcelona gezeigt. Zu den Teilnehmer:innen gehörten Neo «Hlasko» Mahlasela, ntu collective, Tito Zungu, Nolan Oswald Dennis, Thokazani Mhlambi, NoBuntu Mqulwana-Mhlambi, Cowboy bebop, Orchid, pelargonium, sowie einige Forschungsmaterialien. Die erste Iteration von Punya umging die Frage nach Erbgut durch die Geste, meinen japanischen Lieblingsanimationsfilm Cowboy Bebop einen Platz in der Ausstellung zwischen Pflanzen, Kunstwerken und Musik einzuräumen. Inkongruenz wurde zum Platzhalter, um das Fehlen eines Themas zu beschreiben, obwohl das Interesse, das koloniale Erbe zu brechen oder zu verleugnen, im Mittelpunkt meiner Arbeit als Kuratorin und der einbezogenen Werke stand.
10 Weidenkätzchen, Hagebutte, Olive, Papageientulpe, Echinacea, Maiglöckchen, Leine, Schneeglöckchen, Kolbenspiere.
11 Symmetrische Beziehungen und Berechnungen ablehnen; sich bewegen und bewegt werden. Octavia Butlers Parabel vom Sämann führt das Konzept ein, dass man den körperlichen Schmerz und die Ekstase der Menschen teilt, die einem nahe sind; wenn eine Gewalttat verübt wird, diese in ihrer Gesamtheit von den Nahestehenden gefühlt wird.
Das hier ist ein Generator für weitere Geschichten… um Wege zu finden, in der Welt zu sein, ohne systemische Gewalt zu reproduzieren. Butler erzählt Geschichten so wie meine Urgrossmutter mütterlicherseits. Ihre Geschichten waren Horror- und Krimigeschichten, die mich fesselten und in denen sich ihre ständige Auseinandersetzung mit der Dynamik des Lebens in der Kolonialzeit zeigte.
Ich suche nach weiteren Geschichten, die von einer bewussten Praxis zeugen, in Echtzeit Kurskorrekturen vorzunehmen.
Winnie Mandela – und andere – waren sinnlich; sie haben das Leben inhaliert, während sie sich gleichzeitig mit systemischer Ungerechtigkeit auseinandersetzten.
Sie lachten, kämpften für sich und andere.
Sie sind unter der Last des Ganzen zusammengebrochen.
Sie bestanden darauf, zu leben und … lernten daraus, das Systemische auf unterschiedlichste Art zu verhandeln.
Sie sammeln Momente der Möglichkeit und der Ausgelassenheit, auch wenn sie nur vorübergehend sind.
Veranstaltungen
- Mittwoch, 14. Februar 2024, 18.30 Uhr
Dinner mit Asako Iwama - Freitag, 16. Februar 2024, 18–21 Uhr
AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG Punya 2.0 & Afterparty - Sonntag, 18. Februar 2024, 14 Uhr
Rundgang durch die Ausstellung Punya 2.0 mit Camilla Paolino und Ursina Leutenegger - Mittwoch, 21. Februar 2024, 18 Uhr
Einführung für Lehrpersonen - Mittwoch, 6. März 2024, 12.30 Uhr
Mitglieder der Kunsthalle Bern kochen für Dich! Ausstellungsbesuch mit Mittagessen! - Sonntag, 24. März 2024, 14 Uhr
Short Cut | 30-minütiger Rundgang durch die Ausstellung mit Ursina Leutenegger