Archiv
Jef Geys
Eröffnung: Samstag, 29. Mai 2021, 10 – 18 Uhr, freier Eintritt
29. Mai – 25. Juli 2021
Zum AusstellungstextVideodokumentation, Jef Geys, 2021
Ich sehe satt lackierte, halbrunde Vollplastiken, stattlich camouflierte Kühe und lebensgrosse Figuren zwischen Oskar Schlemmer und Tischkicker. Es handelt sich um Erkennbares, das sich benennen lässt. Doch strahlen die Dinge etwas Eigentümliches aus, bleiben trotz ihrer Direktheit auf eine Weise geheimnisvoll. Als Betrachterin frage ich mich: Werde ich mit Rätseln konfrontiert? Die Werke scheinen Bezug auf Reales zu nehmen, wirken selbstverständlich und doch zugleich merkwürdig konstruiert und verschlossen. Man ahnt auch: Jedes Einzelwerk von Geys bleibt offenes Fragment, ist Teil eines Prozesses. Nichts ist hier allein was es scheint.
Es ist die erste Ausstellung zu Jef Geys in der Schweiz. Der 1934 geborene Belgier verstarb vor drei Jahren. Ohne die intensive Mitarbeit seiner Familie, Nina Geys und Kai Ohara, wäre die Schau nicht möglich gewesen. Sie spannt einen Bogen von den 1960er Jahren bis zu den kurz vor seinem Tod entstandenen Paravents und legt dabei ihren Schwerpunkt auf Geys´ serielles Vorgehen. Das Ende der Berner Ausstellung unterteilt den Anfang – die Paravents: Sie zeigen Fotografien, die bereits 1998 während eines Urlaubs in Lissabon entstanden. Melancholische Aufnahmen von Schattenspielen, die das Lissaboner Licht auf Gehwege und Mauern warf, lassen Ort und Zeit im Dunklen. Zunächst 2012 zu Tapeten für eine Ausstellung in Lissabon vergrössert, ließ er sechs Jahre später eine Auswahl der Motive auf Wandschirme übertragen. Die Paravents markieren in der Kunsthalle auch deshalb den Anfang, weil sie in besonderer Weise zeigen, wie Geys Dinge daraufhin befragt, wie sie aufgrund ihrer Form und ihres Spiels mit Sichtbarkeit und Camouflage für die Menschen reizvoll werden.
Eine der Wirklichkeiten, auf die sich Geys in seinen Arbeiten immer wieder bezog, sind die Sprachen der Kunst seiner Zeit. Er tat dies aus der Distanz, spielte mit ihren Möglichkeiten, um ihre Methoden und Formen zu verstehen, zu sehen, wie sie funktionieren, was sie auslösen, wo sie scheitern. Geys befasste sich im Grunde genommen mit dem Selbstverständnis als Künstler. Die Idee des einzigartigen Künstlers durchkreuzte er laufend. Er brachte zwar Dinge hervor, aber er verstand sich nicht als jemand, der andauernd unverkennbar Neues erschafft und Erwartungen bedient. Er selbst war auch viele und gab sich verschiedene Namen: Betty, Lola, Jef van Dijck, Marc Callewaert, Jef Sleeckx. Durch Geys laufen unterschiedliche Stimmen hindurch und trotzdem verbinden sie sich zu einer besonderen Haltung. Sie wirkt heute wieder interessant im Hinblick auf die Frage, wie Künstler*innen sich in der unendlichen Vielzahl von Möglichkeiten für einen Pfad entscheiden. Geys entscheidet sich, indem er sich nicht entscheidet. Das hindert ihn nicht daran, sehr entschieden aufzutreten. Geys´ Arbeiten sind bodenständig, manchmal fast roh, selbst dann, wenn sie Verfeinerungsregeln der Kunst folgen. Ihre Formensprache wirkt direkt und leichtfüssig, dann wieder aufgeladen und versponnen. Sie und sein Tun auf den Punkt bringen zu wollen, wirkt unmöglich. Viel zu sehr sprechen seine Werke unterschiedliche Sprachen. Er setzt Regeln, um sie zu verändern. Es ist eine Kunst, die einen im besonderen Maße auf sich selbst wirft. Sie hilft mir nicht, sie fordert mich.
Geys kam aus der Provinz. Geboren 1934 im Garnisonsdorf Leopoldsburg, wuchs er umgeben von Militärtruppen und einer Kaserne auf. Während des zweiten Weltkrieges trainierte die Waffen-SS auf dem Truppenübungsplatz. Später sollte Geys selbst zum Militär gehen, wie Vater und Bruder. Diese Prägung taucht immer wieder in seinen Bildern auf, in Form soldatischer Figuren, der Faszination für die Camouflage, Kriegssymbolik, geometrische Formationen.
Als junger Mann half er seinem Schwiegervater, einem Rinderhändler, beim Registrieren von Kühen für Auktionen und verlängerte diese familiäre Tätigkeit in ein Kunstwerk, die Cow Passports, die er mit 1965 datiert. Verdutzt über die Tatsache, dass die Menschen auch noch Kühen einen Pass ausstellen, in der selbst die Impfungen vermerkt sind, machte sich Geys einen Scherz daraus, die Camouflage-Zeichnungen besonders fälschungsanfälliger Kuhidentitäten durcheinanderzubringen; aus Lola wurde Bernadette. Der Kuhhandel finanzierte das Studium an der Kunstakademie in Antwerpen, welches er 1958 abschloss. Die Cow Passports bergen Fragen, die bei Geys immer wieder auftauchen: Was lässt ein Bild zum Kunstwerk werden, wie lassen sich Hierarchien auflösen, Konventionen verunreinigen und Schematisierungen entlarven? Beantwortet wird bei Geys nichts im herkömmlichen Sinne, als Kunstwerke beschreiben seine Arbeiten eine eigene Wirklichkeit. Die Fragen flattern in der Luft.
Geys entschied, seinen Lebensmittelpunkt in der Provinz zu behalten und lebte fortan in einem Bauernhaus in Balen, einem Nest in der flämischen Region de Kempen. Er blieb am Rand, auch als er längst international ausstellte. Geys spielte mit den Etiketten des Betriebssystems, er bewegte sich darin, passte sich aber nicht an, um hineinzupassen; ihm widerstrebte der Teil der Kunstwelt, der sich satt im Selbstgenügsamen suhlte. In den 1970er-Jahren weigerte er sich viele Jahre, an Ausstellungen teilzunehmen, die sich aus seiner Sicht ausschließlich an ein Kunstpublikum wandten. Er blieb dann lieber in Balen und hängte ein neues Bild in der Dorfkneipe auf. Aber obwohl sein Schaltzentrum ein Provinznest war, nistete er sich nicht in der Abgeschiedenheit ein, er bewegte sich auf der Höhe der Zeit, reiste und blieb Zeitgenosse in der Kunstwelt.
In Balen war Geys Künstler und Lehrer, doch keinen der beiden Berufe übte er so aus, wie man sich das vorstellte. Von 1960 bis 1989 unterrichtete er an der örtlichen Grundschule. Dem Fach, das für ihn ins Leben gerufen worden war, gab er den Namen «Positive Ästhetik», was mehr nach akademischem Grundkurs klingt als nach einer Klasse für Kinder. Darum ging es auch. Geys traute Kindern viel zu, verfolgte einen Ansatz der Gleichheit, man lernte miteinander und voneinander. Dieses demokratische Lernen entsprach pädagogischen Ansätzen einer Epoche, in der autoritäre Gefüge vielerorts destabilisiert wurden. Wie dieser Unterricht genau aussah, darüber werden immer wieder ähnliche Anekdoten erzählt, was wirklich geschah, bleibt jedoch spekulativ. Seine Kunstwerke geben allerdings eine Idee, worüber diskutiert und was getan wurde. Es ist anzunehmen, dass es um eine Schulung des Schauens und eigenständigen Denkens ging. Die zeitgenössische Kunst nahm dabei die Hauptrolle ein. Mit den Kindern besuchte er Marcel Broodthaers im Atelier in Brüssel, holte Werke von Künstlern wie Andy Warhol, Roy Lichtenstein oder Gilbert und George aus Museumssammlungen ins Klassenzimmer. Es wurde aber auch über «Frauenfragen» diskutiert, was soll das sein, die feminine Identität? Es entstand ein Fragenkatalog, der später in viele Weltsprachen übersetzt werden sollte. Man erörterte die Unterschiede zwischen einem Happening und einem Environment, und während die US-amerikanische Appropriation Art auftauchte, arbeitete man Exponate der Moderne nach. Es ging um die Aufforderung, es selbst zu machen. Bürgerliche Ideen der Unterscheidung zwischen Amateur*in und Künstler*in, der Bewertung in richtig und falsch, angemessen und unangemessen desavouierte Geys und verfolgte einen Ansatz der Gleichbehandlung, was in seinem Kosmos womöglich viel natürlicher geschah als es die Reflektion darüber es erscheinen lässt.
Trotzdem war sein Unterricht wohl weniger Punk als immer noch ein alternativer Weg der Erziehung, der libertäre Formen der Pädagogik versuchte. Dass Geys Lehrer war und sein Tun manchmal den Zeigefinger zu erheben scheint, gibt einem hin und wieder das Gefühl, eine Aufgabe lösen zu müssen, bei der man nicht mal sicher ist, die Fragen verstanden zu haben.
Doch wenn die Erziehung zur Freiheit ein weiterer, im Ansatz zwangsläufig verdrehter Weg ist, ging hier jemand sehr weit. Für Geys bedeutete Erziehung die Möglichkeit der freien Recherche, des wilden Denkens und der Bewusstwerdung von Rastern und Regulationen. Militärische Ordnungsraster beschäftigten ihn zeitlebens. Regelwerke verstand er als institutionalisierte Rahmen, die als solche erkannt werden müssen, um sich in ihnen bewegen und ihnen gegenüber eine eigene Haltung einnehmen zu können.
Auch wenn er Grundsatzfragen an die Kunst stellte, manchmal mit dem Eifer eines Soziologen, ging es letztlich nicht um eine Erklärung und schon gar nicht um ultimative Antworten. Ultimatives interessierte Geys nicht. Die Regelwerke eines Kunstwerks blieben für ihn durchaus eine mysteriöse Realität, nichts ist Gegeben, doch auch als Skeptiker glaubte er an die Möglichkeiten der Kunst.
Geys´ Haltung, zeitgenössische Kunst als etwas Selbstverständliches an den Rändern zu leben und zu verhandeln, äußerte sich auch in der Zeitung Kempens Informatieblad, die er von 1971 bis 2018 herausgab. Bereits Anfang der 1960er-Jahre war Geys in der Redaktion des Anzeigenblattes Kempisch Reklaamblad tätig. Zwischen die Anzeigen begann er irgendwann Texte und Bilder einzubauen und als das Blatt bankrott ging, übernahm er es und machte daraus kurzerhand das Kempens Informatieblad. Die Zeitung spiegelt Geys´ Verbindungswillen zwischen sozialen Sphären. Sein Unterfangen sollte nicht charismatische Utopie bleiben, sondern praktisch und unspektakulär umgesetzt werden. Geys bildete sich nicht ein, die Welt zu verbessern, sondern setzte an kleinen peripheren Punkten an und gerade deshalb gelang es ihm, seine Vorstellungen in Taten umzusetzen. Das Lokalblatt informierte sein dörfliches Umfeld über Kunst, genauso wie ein internationales Kunstpublikum, wenn er es zu seinen Ausstellungen publizierte.
Geys´ Sozialutopie versuchte, die eigenen Wirklichkeiten und Sprachen der Kunst mit soziopolitischen Ansinnen zu verbinden. Im Gegensatz zu anderen Künstler*innen mit ähnlichen Antrieben schuf er aus seinem Selbst keinen Mythos. Er zog sich lieber zurück und konzentrierte sich auf die kleinen Geschichten, jene, die er selber kannte, nicht die Probleme der Welt – «Was habe ich damit zu tun?». Das bedeutete nicht, dass er sich selbst zurücknahm als Subjekt, er implementierte sich und die Befragung seiner Rolle sogar oft in sein Tun, aber es gab keine schillernden Auftritte, er gab sich nicht wie ein Messias, der weiss, was der richtige Weg ist. Damit alles Versuch mit offenem Ende bleiben konnte, untersagte er sich solche Formen der Selbstgewissheit. Alles wollte er morgen noch einmal anders denken können. Das Archiv, in welchem der Künstler die Spuren seines Tuns seit 1947 ablegte, ist deshalb zwar auch ein Logbuch, jedoch noch viel mehr ist es eine Werkzeugkiste, deren Elemente immer wieder in veränderten Konstellationen belebt werden konnten.
Mit besonderem Dank an:
Nina Geys und Kai Ohara
Max Mayer
Florence Bonnefous
Maxwell Graham
Allen Leihgeber*innen der Ausstellung
In Zusammenarbeit mit der Kunsthalle Bergen, Norwegen, die 2020 ebenfalls eine Ausstellung zu Gef Geys präsentierte, ist eine gemeinsam herausgegebene Publikation in Bearbeitung, die voraussichtlich im Herbst 2021 erscheinen wird.
Veranstaltungen
- Sonntag, 30. Mai 2021, 14 Uhr
Rundgang durch die Jef Geys-Ausstellung mit Valérie Knoll (Direktorin Kunsthalle Bern) - Dienstag, 1. Juni 2021, 18 Uhr
Einführung für Lehrpersonen - Donnerstag, 10. Juni 2021, 18 Uhr
Rundgang durch die Jef Geys-Ausstellung mit Julia Jost (Kunstvermittlerin Kunsthalle Bern) - Dienstag, 29. Juni 2021, 19 Uhr
Étude 23 - Sonntag, 4. Juli 2021, 14 Uhr
Short Cut | 30-minütiger Rundgang durch die Jef Geys-Ausstellung