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Die Kunsthalle Bern präsentiert die erste grössere Einzelausstellung der jungen amerikanischen Künstlerin Chloe Piene: 4 Videoarbeiten – davon eine speziell für Bern geschaffene – sowie etwa 20 Zeichnungen, die in den letzten beiden Jahren entstanden sind.
Piene inszeniert in ihren Videos Menschen in Extremsituationen: eine grimassierende junge Frau (die Künstlerin) in einem staubigen Verlies; Jugendliche, die sich anlässlich eines Hardcore-Konzerts im sog. mosh pit aggressiv-ekstatisch aufladen; ein Mädchen im dunklen Wald, dessen zahnloser Mund sich zu einem Schrei öffnet. In allen Videos verfremdet Piene die Stimme, dehnt sie bis zur Unverständlichkeit, oder löst sie vom Sprecher ab: „Wenn sie vom Körper getrennt ist, wird sie mächtiger – die Stimme der Vernunft, die autoritäre Stimme, die kollektive Stimme, der Schrei des Verurteilten…“ (Piene). Die Metamorphose des menschlichen Körpers als Spiegel transitorischer Bewusstseinszustände bildet das Hauptthema der grossformatigen Kohlezeichnungen Chloe Pienes. Halb verflüssigt/halb fest, halb Tier/halb Mensch, halb Skelett/halb Körper schweben oder schwimmen diese Leiber auf dem transparenten Velin-Papier, weder örtlich verankert noch zeitlich gebunden (sie erinnern in ihrer Todesthematik an Holbein, in ihrem Stil an gewisse Manieristen oder an Schiele). Das junge Werk der amerikanischen Künstlerin ist ein verzweifelter Versuch, wenigstens in den dunklen Winkeln und Nischen einer sich auflösenden und virtualisierenden Welt Emotionalität und (fragile) Körperlichkeit neu anzusiedeln.
UNTERTAUCHEN
Eine liegende weibliche Person – die Künstlerin – wird von einer Menschenmenge getragen, emporgehoben, dem Licht – dem Goldregen – ausgesetzt: eine zeitgenössische Danae1? Der sich als kleiner Macho gebärdende Little David enthält eine unmissverständliche Anspielung auf den alttestamentarischen Besieger des Riesens Goliath2. In einer Reihe von Zeichnungen führt uns Piene Figuren aus dem finnischen Nationalepos Kalevala vor, das von Liebe und Hass, Schmerz und Tod erzählt3. Der Tod ist überhaupt allgegenwärtig in Pienes Werk. In den Zeichnungen trifft nicht nur (wie bei Holbein) der Tod als Skelett auf einen Menschen, sondern der Totentanz findet in ein und demselben Körper statt, von dem sich Teile bis auf die Knochen zersetzen. Aus dem Manierismus sind die perspektivisch verkürzten, schwebenden oder sinkenden Gestalten entlehnt; der Zeichenstil erinnert an Egon Schiele; und die Todesthematik entstammt dem Symbolismus und der „schwarzen Romantik“ (Mario Praz) des Fin de siècle. Ob so viel kunst- und kulturgeschichtlicher Rezeption, d.h. Zeitlosigkeit, tendiert man dazu, die zeitgenössischen Elemente aus den Augen zu verlieren. Die sich im wilden Tanz (oder ritualisierten Kampf?) austobenden jungen Leute sind am „moshen“, die Danae ist am „crowd surfen“4. Der Totenschädel und andere makabre Elemente sind auch feste Bestandteile der Heavy Metal-Kultur. Kunst für kunsthistorisch geschulte Menschen? Oder Kunst für Gothic-Grufties? Sagen diese Fragen nicht schon etwas über die Spannweite von Chloe Pienes Werk aus?

Die von der amerikanischen Künstlerin praktizierte Methode des Surfens in der Kulturgeschichte5 geschieht nach dem Modus des Hypertexts, des assoziativen Informationssystems, das ursprünglich das Wissen der ganzen Welt verbinden und überall und jederzeit für alle abrufbar machen wollte. Bild, Sprache, Schrift gehorchen hier weder einer Chronologie oder sonst einer zeitlichen Linearität noch einer räumlichen Vereinheitlichung, sondern sind ausserhalb jeglichen Kontextes individuell verfügbar. Piene gehört zu jener Generation von Künstlerinnen und Künstlern, die mit den sog. neuen Medien, mit dem Internet, der elektronisch generierten Virtualität, der Interaktivität aufgewachsen sind und einschlägige Erfahrungen in ihre Kunst mitbringen.

In einem Interview mit sich selber6 vom 23. September 2003 beschreibt Chloe Piene ihre Faszination für eine mit Ophelia verwandte Figur aus dem Kalevala: „Ich schuf einen ganzen Korpus von Zeichnungen zu einer Figur namens Aino, die sich in einem Fluss ertränkt, um einem unglücklichen Heiratsversprechen zu entkommen. Dafür machte ich Fotos eines kleinen Mädchens in verschiedenen unangenehmen Stellungen, um sie dann in eine Wasserleiche zu transformieren. Ich war schon immer fasziniert von der Idee der Metamorphose und der eigenartigen Anmut eines Körpers unter Wasser.“ Das Ertrinken ist ein wiederkehrendes Motiv in Pienes Kunst, u.a. auch in den zeitgenössischen Formen des stage diving und crowd surfing. Der Ausdruck „Immersion“ charakterisiert in der wissenschaftlichen Literatur zum Cyberspace das Phänomen des Eintauchens oder Versinkens in die andersartige Erlebniswelt der virtuellen Realität. Immersion kann nur dann geschehen, wenn der Raum, in dem sich unser leiblicher Körper befindet, nach Möglichkeit ausgeblendet werden kann. Chloe Piene erlaubt ihren Figuren keine räumliche Verankerung im dunklen Raum oder auf dem weissen Blatt Papier. Sie lässt sie viel eher im Gefängnis, im mosh pit, im Grab, in der Finsternis, d.h. in räumlicher Viskosität herumirren. Oder sie lässt die schwimmenden, fliegenden Gestalten sich auf der Opazität des Velins wie auf einer Mattscheibe niederschlagen. Immersion zielt auf die Aufhebung der Unterscheidung zwischen realer und fiktionaler Welt. Die unglaubliche Renaissance des Genres „Fantasy“ in Literatur und Kino in den letzten Jahren ist u.a. durch das nunmehr zu quasi angeborenen Fähigkeiten gehörende Ausklinken aus unserer wirklichen Umgebung und gleichzeitige Eintauchen in vergangene Zeitalter und andere Realitätsebenen erklärbar. Chloe Piene stellt in ihrem Selbstinterview fest: „Es scheint, als wäre die Fantasiewelt ebenso wichtig für dich wie die Wirklichkeit.“ und führt dann aus: „Die Fantasiewelt kleidet das Unsichtbare ein. Denn was wir nicht sehen können existiert unzweifelhaft auf einflussreiche Art und Weise. Wir fühlen es, doch können wir es nicht sehen. Wir sehen es, doch können wir es nicht verstehen – genau wie in der Fantasiewelt oder in den Träumen.“

Die medienvermittelte Immersion in eine andersartige Erlebniswelt muss nicht unbedingt, wie so oft behauptet wird, zu einer Banalisierung unserer Körpererfahrung oder gar einer „Entkörperung“ des Subjekts führen. Die mediale Einflussnahme kann gewiss auch eine Neudefinition körperlicher Erfahrungen und eine Erweiterung deren Potenziale ermöglichen. Chloe Piene hat wiederholt den Homunculus dargestellt, diese disproportioniert gezeichnete menschliche Figur, die die proportionale Wichtigkeit des sensomotorischen Kortex‘ in den einzelnen Körperteilen veranschaulichen soll – was sehr direkt zeigt, dass sich die Künstlerin mit Fragen der Körperwahrnehmung beschäftigt. Im schon mehrmals erwähnten „Selbstgespräch“ erklärt sie ihre Geringschätzung der Bodybuilder: “Ich bin fasziniert vom Körper, der das Resultat von Arbeit ist – nicht vom Gewichtheben, das nur dazu dient, den Körper aufzublasen, sondern vom Gewicht, das gehoben wird, um etwas anderes zu machen, etwas ausserhalb des Selbst. Der Zimmermann braucht Werkzeuge, um ein Haus zu bauen; diese Energie fliesst dann zurück in seinen Körper als Muskel- und Knochenmasse. Die Struktur seines Körpers, dessen Form, ist durch die Struktur des Hauses bedingt, das er gebaut hat.” Der Körper – das Hauptmotiv in Chloe Pienes Kunst – ist durch die elektronischen Medien (wie der Körper des Zimmermanns durch die Bauweise des Hauses) zu einer hypersensiblen Schnittstelle geworden. Die Elektrizität, behauptet Marshall McLuhan, sei das Medium des In-Berührung-Kommens und erschiene nur zufällig visuell und auditiv; sie sei in erster Linie taktil. Daher kann sich übrigens die Stimme in den meisten Videoarbeiten von Piene problemlos vom Körper trennen, oder genauer: Trotz sichtbarem Bezug auf die dargestellte Person kann die Stimme eine beinahe unheimliche Autonomie erlangen. Die virtuelle Realitätbegünstigt denn auch eine taktil ausgerichtete Wahrnehmung und trägt zur Rehabilitation zuvor verdrängter Gefühle bei. Dazu gehört etwa die von Lee Triming in seinem Essay analysierte Selbstbefriedigung, die – und das klingt wie ein Paradox – in der Cyberwelt das Resultat fantasmagorischer Interaktivität sein kann.

Darin liegt das Erstaunliche in Chloe Pienes Vorgehen: Die Künstlerin führt aus der virtuellen Realität geschöpfte Erkenntnisse und Körpererfahrungen in die traditionellen Medien Zeichnung und Video zurück. Sie verzichtet auf das totale elektronische Environment und sucht Immersion in der Realität des Zeichenblattes. Im Interview mit sich selbst verrät Piene: „Wenn ich zeichne, verliere ich mich, ich verliere mich wirklich: Die Zeichnung nimmt völlig überhand. Wenn das geschieht, dann schwindet alles, was mit einer Geschichte oder einer Figur – auch meiner Figur, zu tun hat. Dasselbe geschieht im mosh pit. Oder wenn ich einen Orgasmus habe. Dann bin ich praktisch blind.“ Der Körper als durch Cyberkultur ausgebildetes Instrument für die taktile Erfahrung der Welt und des Anderen eröffnet in den traditionellen Medien der bildenden Kunst ein neues Feld von Möglichkeiten.

Bernhard Fibicher

[1]Vgl. Self Portrait, 2002, Videoinstallation, DVD NTSC, 0‘31‘‘, S. 28.
[2] Vgl. Little David 1999, Videoinstallation, DVD NTSC, 3‘56‘‘, S. 30.
[3] Zu dieser Serie gehören: Sampo, 2001, Kohle auf Velin, 101 × 93 cm, Fondation Leschot, Schweiz, S. 20; Drowning Girl, 2001, Kohle auf Velin, 109 × 102 cm, Fondation Leschot, Schweiz, S. 18; Melancholy Girl, 2001, Kohle auf Velin, 120 × 110 cm, Sammlung The Museum of Modern Art, New York, S. 25.
[4] Eine Fünzehnjährige beschreibt diese Aktivitäten auf dem Internet: „Falls du noch nie im ‚mosh pit‘ gewesen bist, es geht dort folgendes ab: Leute springen zu Musik herum und prallen aufeinander. Das ist eine Art Tanz. Bald bist du schweissgebadet, doch ist es nicht unbedingt dein eigener Schweiss. Je nach Musikart und den dazugehörigen Fans kann ‚moshen‘ Spass machen oder sehr rauh sein. (…) ‚Crowd surfen‘ bedeutet, wenn du von der Menge getragen und über deren Köpfe gestemmt wirst. Viele Unbekannte berühren dich dabei, was dir bizarr vorkommen kann. Doch damit musst du rechnen beim ‚Crowd-Surfen‘.“ (www.layouth.com/4_13_17.htm).
[5] Damit sei nicht behauptet, dass sich Piene bloss im Internet bedient. Sie wendet nur eine mit diesem Medium verbundene Methode an, kennt aber die meisten älteren Kunstwerke, für die sie sich interessiert, im Original.
[6]Dieses “Interview of Chloe Piene by Chloe Piene” bildete eine schriftliche Stellungnahme der Künstlerin für die Ausstellung Love and Hate in der Ursula Blickle Stiftung.