Schlafen in der Kunsthalle
Die Ausstellung von Tomoko Takahashi war im Jahresprogramm 2002 der Kunsthalle Bern folgendermassen angekündigt:
“Die 1966 in Tokio geborene, in Japan als Malerin ausgebildete Tomoko Takahashi ist 1990 nach London gezogen und hat dort die bekannten Kunstschulen Goldsmiths College and Slade School of Art absolviert. Ihre materialreichen Installationen bestehen aus gefundenen Objekten aus verschiedenen Kontexten, die sie auf anscheinend chaotische, aber komplexe Art und Weise in Ausstellungsräumen arrangiert: so z.B. Computer in Line-Out, 1999, Saatchi Gallery, London (vgl. Abb.) oder Material aus dem Werkhof des Strassenverkehrsamtes anlässlich der Turner-Preis-Ausstellung in der Tate Gallery, London, 2000. Immer sind diese „Materiallager“ mit etwas Persönlichem verbunden: Entweder integriert die Künstlerin darin Objekte aus ihrem Besitz – eine gebrauchte Fahrkarte, Fotos, eine Rechnung etc. – oder sie bewohnt die Installationen während der Aufbauarbeit, damit direkte Spuren ihrer Präsenz sichtbar bleiben. Tomoko Takahashi füllt Räume mit Abfall, d.h. mit gelebtem Leben, das durch ihre fühlbare Aneignung sowie durch das physische Begehen durch den Ausstellungsbesucher und dessen geistiges Zusammenfügen des „Puzzles“ aktualisiert wird. Die Japanerin ist ausserdem die Schöpferin einer der originellsten Künstler/innen-Websites (Word Perhect, zu finden unter www.e-2.org) die ein gelungener, humorvoller Versuch der Humanisierung anonymer Technik darstellt.”
Ein Element in diesem Kurztext bedarf der Erklärung und verleitet zu Ausführungen. Mit „sie bewohnt die Installation während der Aufbauarbeit“ ist gemeint, dass die Künstlerin in den Galerien und Institutionen, in denen sie ausstellt, ebenfalls schläft. Das hat sie auch in der Kunsthalle Bern während rund drei Wochen getan. Die Kunsthalle wurde zu ihrem Arbeitsraum und zu ihrem Schlafzimmer.
Der Mensch bringt bekanntlich ein Drittel seines Lebens im Schlafe zu. Trotzdem besitzt dieser keinen eigenständigen (semantischen) Wert. Er ist bloss eine Funktion des komplementären Zustandes, des Wachseins, wird von ihm aus und durch ihn definiert und ist dadurch von Grund auf negativ vorbelastet: Rückzug, Verlust, Untätigkeit, Nichtwachsein; in Schlaf fallen, sinken; vom Schlaf überfallen, überwältigt werden. Der Schlaf während der Arbeit oder am Arbeitsort gilt als Zeichen menschlicher Schwäche oder Unbekümmertheit. Wachsein als Normalzustand, Schlafen als Abweichung, als Anderssein. Nun macht aber ebendieses Anderssein den Schlaf im Gegensatzpaar Schlaf/Wachsein zum hervorgehobenen, gekennzeichneten Terminus. Der Schlaf wird somit bedeutungsschwer, während der Zustand des Wachseins erst durch Hinzufügen einer das Wachsein charakterisierenden Tätigkeit aussagekräftig wird. Der Schlaf erobert sich somit seine Autonomie zurück. Takahashi hat – zusammengerechnet – ca. eine Woche schlafend in der Kunsthalle verbracht.
Dass ein kontemplativer, d.h. zugleich passiver und rezeptiver Zustand die Inspiration des Künstlers begünstige, ist ein uralter dichtungstheoretischer Topos, der im 19. Jahrhundert von den Romantikern und im 20. Jahrhundert in den Kreisen der Surrealisten neu belebt wurde. Ausser dem Dichter Robert Desnos, von dem seine Freunde berichten, er habe ihnen im Schlafe Gedichte diktiert, scheint es noch nie jemandem gelungen zu sein, im Schlaf ein Kunstwerk zu schaffen. Der Schlaf als Zustand körperlicher Inaktivität und geistigen Unbewusstseins ist traditionellerweise das Gegenteil des – sei es noch so spontanen – gewollten, bedachten künstlerischen Gestaltungsaktes. Nicht so bei Takahashi.
Indem die japanische Künstlerin in der Kunsthalle schläft und das von ihr benützte Bett auch gleich stehen lässt, d.h. in die Installation integriert, verweist sie auf verschiedene Aspekte ihrer Arbeit, der künstlerischen Tätigkeit und des Menschseins schlechthin:
Schlafen in der Kunsthalle vermindert die Aufenthaltsspesen eines Künstlers/einer Künstlerin; es kann mehr Geld in die Ausstellung oder in den Katalog investiert werden.
Schlafen in der Kunsthalle heisst: hundertprozentiger persönlicher Einsatz. Schlafen in der Kunsthalle beweist, dass eine totale Kontrolle rund um die Uhr über das im Entstehen begriffene Werk angestrebt wird.
Schlafen in der Kunsthalle bedeutet, dass kein Unterschied zwischen dem bewussten und dem weniger bewussten, vielleicht sogar dem unbewussten Teil der kreativen Tätigkeit gemacht wird.
-Wer in der Kunsthalle schläft, setzt sich dem Einfluss der Nacht aus.
-Wer in der Kunsthalle schläft, will sich vom genius loci inspirieren lassen.
-Wer in der Kunsthalle schläft, manifestiert damit, dass Schlafen und Wachsein, Tag und Nacht, geistige und physische Arbeit, Traum und Wirklichkeit einander nicht ausschliessen, sondern sich gegenseitig befruchten.
-Wer in der Kunsthalle schläft, kann nur ein Werk hervorbringen, das den Ordnungssinn des Wachseins mit dem Chaos des Schlafs (oder einer nicht nachvollziehbaren „anderen“ Logik) verbindet.
Wer sein Bett ausstellt, verbindet seine Biographie aufs Intimste mit seinem Werk, mit einem Ort, will damit sagen: „Ich war hier“.
Bernhard Fibicher